Wenn ein Tanzstück die gesellschaftlichen Verhältnisse karikiert, ihr Innerstes nach Außen trägt und dem Publikum ungefiltert widerspiegelt – dann ist es am Puls der Zeit. John Neumeiers Ghost Light ist nicht nur in Zeiten der Coronavirus-Pandemie entstanden, es ist auch ein Stück für diese Pandemie.
Choreographische Freiheit ist eingeschränkt
Nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 war es wieder möglich, im Ballettsaal zu proben. Aber nur mit auferlegten Abstandsregeln und in kleineren Gruppen. Genau unter dieser Prämisse entstand Ghost Light, welches die geltenden Abstands- und Hygieneregeln zum Thema machte. Auf der Bühne dürfen sich nur die Personen einander nähern und sich berühren, die in einem Haushalt leben. Zu allen anderen ist Abstand zu halten.
Choreographisch ist die Idee nicht neu, die Begegnungen und Interaktionen der Tänzer:innen zu limitieren, um dem Stück eine Struktur zu verleihen. Doch dass der limitierende Faktor überwiegend vom Zufall bestimmt wird, ist ungewöhnlich. Es gibt keinen Raum zum Experimentieren, die Tatsachen wurden bereits geschaffen. Was ist also vor diesem Hintergrund von so einem Stück zu erwarten? Vor allem Reibung und Brüche.
Widersprüche aushalten
Schon zu Beginn wird der fragmenthafte Aufbau deutlich: Tänzerische Stilbrüche, die nebeneinander existieren, rufen aufregende Spannungen hervor und korrelieren mit unserem Erleben während der Pandemie. Es scheint so, als würden Parallelwelten aufeinander treffen und sich bewusst werden, dass sie sich den gleichen Zeitstrang teilen.
Zwischen Gemeinschaft und dem Alleinsein
Die Tänzer:innen realisieren ihre unterschiedlichen Wahrheiten und die unterschiedlichen Umstände, in denen sie sich wiederfinden. Einige wenden sich vom Geschehen ab, unfähig das fröhliche Treiben mit anzusehen und frustriert von der eigenen Eingrenzung. Und doch werden sie angetrieben von der ungestillten Sehnsucht, sich zu begegnen. Sich zu berühren.
Ist es demnach ein Privileg, in einer Gemeinschaft zu leben? Gemeinsam kann man sich gegenseitig aufbauen, unterhalten, Halt geben. Diesen Eindruck erwecken zumindest einige Duette. Es scheint so, als würden sie mit Leichtigkeit durch diese schwierige Zeit kommen, so leicht und losgelöst bewegen sie sich miteinander auf der Bühne oder in Interaktion mit „den anderen“. Bei einigen Paaren schlägt die anfängliche Leidenschaft aber in Belastung über. Der Druck wird zu groß, die Nähe zu eng. Doch wie distanzieren, wenn man plötzlich so aneinander gebunden ist?
Ist das gerade wirklich passiert?
Während man sich all diese philosophischen Fragen stellt und sich der eigenen Tragik bewusst wird, erscheint plötzlich ein Geist. Es ist eigentlich nicht wirklich ein Geist, aber als Zuschauerin frage ich mich, ob ich fantasiere, oder da wirklich gerade Klara/Marie mit ihrem Nussknacker über die Bühne tanzt, am Weihnachtsabend?
Dem Publikum bleibt die Katharsis verwehrt. Gut so, denn wir befinden uns nach wie vor in einer Pandemie und haben noch lange nicht alle Perspektiven sichtbar gemacht. Durch die Erscheinung dieser sogenannten „Geister“ wird die Reibung der einzelnen Tanzfragmente verstärkt. Eine besondere Stärke der Choreographie.
Das Private wird choreographisch
„Oh, die wohnen also zusammen“, bei diesem Gedanken habe ich mich beim Zuschauen tatsächlich häufiger erwischt. Etwas, was mich überhaupt nichts angeht. Während die Tänzer:innen eine „Rolle“ auf der Bühne spielen, offenbaren sie gleichzeitig ihre privaten Wohnverhältnisse. Auch mit diesem Zwiespalt müssen wir uns in der Pandemie konfrontiert sehen. Wer wann mit wem wird reglementiert und zu einem Politikum.
Die Logik überwinden
Letztlich lebt Ghost Light in erster Linie von seinen Widersprüchen und szenischen Reibungen. Ich habe es sehr genossen, immer wieder ruppig aus einem Geschehen herausgeholt zu werden, immer wieder abrupt einen Gedankenstrang loslassen zu müssen und mich neu zu orientieren. Denn genau das müssen wir seit fast einem Jahr jeden Tag auf’s Neue tun: Loslassen und Neuorientieren.
Ghost Light ist mit einer „Spielfilmlänge“ von 107 Minuten ein wenig langgezogen, aber eine spannende und höchst aktuelle Reflexion unserer Pandemie-Realität. Es ist ein Stück, was diese außergewöhnliche Situation einfängt und durch die musikalischen Klänge von Franz Schubert fast wie einen absurden Traum wirken lässt. Aber eben nur fast.
Noch bis zum 23. April 2021 ist es auf arte concert zu sehen. Sehr empfehlenswert für einen Theaterabend auf der Couch, am besten allein (Zwinkersmiley).