Vor einer Weile bin ich auf instagram auf das Profil von Dance Data Project gestoßen. Die Initiative forscht zu sexistischen Strukturen im Ballett und publiziert regelmäßig ihre Studienergebnisse und Artikel. Das Projekt widmet sich vor allem den Karrierechancen von Frauen in der Tanzbranche sowie der ungleichen Bezahlung (Gender Pay Gap) in Führungspositionen.
All diese Themen (Sexismus in der Arbeitswelt, Gender Pay Gap, weniger Frauen in Führungspositionen) sind für mich nicht neu und mir ist schon lange aufgefallen, dass auch in der Tanzszene überwiegend Männer die Positionen in der künstlerischen Leitung oder in der Choreographie/Direktion besetzen, obwohl mehr Frauen in der Tanzbranche zu arbeiten scheinen.
Auf der Suche nach aussagekräftigen Zahlen und Studien aus der deutschen Tanzszene bin ich auf einige Artikel zu Sexismus im Tanz gestoßen, die zeitlich in die #metoo-Debatte fielen, aber wissenschaftliche Studien geschweige denn Transparenz bezüglich der Gehälter und Gagen habe ich nicht wirklich gefunden.
So viele Gesellschaften, Institute, Forschungsinitiativen und Verbände rund um den Tanz in Deutschland aber nirgends wird das Thema Sexismus aufbereitet. Warum? Liegt es daran, dass die Tanzbranche noch nicht so weit ist? Liegt es daran, dass sie davon ausgeht, kein „Sexismus-Problem“ zu haben? Oder ist das Google-ranking dieser Seiten einfach nicht so hoch?
Das Ungleichgewicht in der Tanzbranche
Wenn man sich die leaderships an festen Häusern anguckt, so fällt schon auf, dass die Mehrheit Choreographen, Intendanten und künstlerische Leiter sind. Manche Häuser haben (noch) eine Doppelspitze wie Sasha Waltz und Johannes Öhman am Staatsballett Berlin und natürlich gibt es auch die Chefchoreographinnen an renommierten Compagnien wie Bridget Breiner am Badischen Staatstheater Karlsruhe. Wie in den USA scheint es aber auch in Deutschland eine ungleiche Verteilung zwischen Männern und Frauen in hohen Positionen zu geben.
„For every female artistic director, there are 3 male artistic directors leading top U.S. ballet companies.“
Dance Data Project, https://www.instagram.com/dancedataproject/
Beim diesjährigen 34. Internationalen Choreographiewettbewerb in Hannover gingen von 9 Preisen nur einer an eine Frau (Zoé de Sousa). Auch die Jurymitglieder der letzten Wettbewerbe waren überwiegend männlich, die Jury für die Produktionspreise 2020 ausschließlich männlich. Das Stuttgarter Ballett stellt seine Choreograph*innen 2020 vor: 6 Männer und 3 Frauen. John Neumeier präsentiert seine „jungen Choreographen 2020“: 3 Frauen, 11 Männern.
Aber ist das gleich ein Zeichen für Sexismus?
„81 % of works in the 2018-2019 seasons of the Top 50 ballet companies were choreographed by men.“
Dance Date Project, https://www.instagram.com/dancedataproject/
Die allgemeine Definition von (Hetero)-Sexismus
Sexismus beschreibt die Diskriminierung und Benachteiligung aufgrund des Geschlechts. Die Grundlage für Sexismus bilden soziale und gesellschaftliche Rollenzuschreibungen und Geschlechtervorurteile, die sich in unserem Denken, unserer Handlung und in unseren Gesetzen manifestiert haben. Sexismus zeigt eine Hierarchie zwischen den Geschlechtern auf, wobei in unserer Gesellschaft das männliche Geschlecht als das Überlegenere gilt. Diese Form wird auch Heterosexismus genannt, weil es nur die zwei Geschlechter männlich und weiblich berücksichtigt.
Sexismus ist strukturell verankert, sodass wir ihn nicht immer gleich wahrnehmen, weil wir bestimmte Muster für gegeben und „normal“ halten. Zum Beispiel in unserer Sprache: Immer noch wird überwiegend das generische Maskulinum verwendet: der Arzt, der Tänzer, der Pädagoge, der Lehrer. Obwohl eigentlich (auch) Frauen gemeint sind. An dieser Stelle verzichte ich auf ein Plädoyer für geschlechtergerechte Sprache, denn dazu gibt es genug andere gute Lektüre. Fakt ist, dass Studien belegt haben, dass wenn es z.B. darum geht, berühmte Schauspieler oder berühmte Musiker zu nennen, die Testpersonen fast ausschließlich Männer genannt haben. Sprache formt also auch unser Denken und Handeln. „Die Tänzer“ zu sagen und „alle mitzumeinen“ macht unterbewusst die Tänzerinnen unsichtbar. Und das manifestiert sich in unseren sozialen Strukturen (nicht nur im Tanz, sondern überall)
Die Auswirkungen von Sexismus
Struktureller Sexismus zeigt sich auf unterschiedliche Weise. Die Zusammenhänge sind komplex, manchmal auch widersprüchlich. Umso wichtiger ist es, unseren Alltag und die Prozesse zu reflektieren und eine Sensibilisierung für das Thema herzustellen. Denn nur dann können Diskurse und Veränderungen entstehen.
Geschlechterklischees und Stereotype
Wir haben sozial erlernt, dass wir Personen einer vermeintlich erkennbaren Geschlechtszugehörigkeit bestimmte Eigenschaften zuschreiben. Dieser Lernprozess hat sich so verankert, dass wir bestimmte Eigenschaften als „normal“ wahrnehmen und uns selbst in diesem Rahmen positionieren. Wir lernen, Stärke, Mut oder Erfolg mit männlich zu assoziieren und Fürsorglichkeit, Verletzlichkeit und Schönheit mit weiblich. Dieses Denken führt dazu, dass Frauen sehr oft nicht einmal zugetraut wird, ein Unternehmen, ein Team oder ein Tanzensemble zu leiten. Sie kommen für solche Jobs weniger in Frage und werden nicht vorgeschlagen.
Lohnungerechtigkeit und weibliche Altersarmut
Dance Data Project hat die Gehälter von Männern und Frauen in der Tanzbranche unter den artistic directors verglichen:
„Women currently earn an average of $0.63 for every $1.00 men earn as artistic director of a U.S. ballet company.“
Dance data Project, https://www.instagram.com/dancedataproject/
In Deutschland beträgt die Lohnlücke, also der Gender Pay Gap, zwischen Männern und Frauen durchschnittlich 20% über die Branchen verteilt (Quelle: Statistisches Bundesamt).
Mit einem Blick in unsere privaten Tanzschulen aber auch in die professionelle Tanzausbildung lässt sich sehen, dass die Mehrzahl der Schüler*innen Mädchen und Frauen sind. Auch in der Tanzpädagogik arbeiten verbreitet viel mehr Frauen (vor allem im Ballett) als Männer. Dennoch existiert der Gender Pay Gap und ist im Übrigen gar nicht so außergewöhnlich: Wenn wir auf den Beruf der Erzieherin gucken oder einen Blick auf das Lehramt werfen, dann können wir ähnliches feststellen: Den Beruf üben überwiegend Frauen aus, in der Leitung sitzen häufiger Männer und die ungleiche Bezahlung bleibt bestehen. Weniger Gehalt führt zu einer geringeren Rente, weshalb Altersarmut vor allem für Frauen ein riesen Problem ist.
Woran wir erkennen, dass unsere Tanzwelt sexistisch ist
Zwischendurch habe ich mir die Frage gestellt: Wieso sollte denn die Tanzszene nicht von Sexismus betroffen sein? Schließlich ist sie doch genauso Teil unserer Gesellschaft und Kultur. Überrascht hat es mich aber schon, dass in der digitalen Welt so wenig darüber gesprochen oder geschrieben wird, dass es scheinbar so wenig problematisiert wird.
Wenn weiterhin viel weniger Frauen als Chefchoreographinnen oder Intendantinnen arbeiten, dann wird sich das auch in Zukunft nicht verändern. Es braucht role models für die nachfolgenden Generationen und einen reflektierteren Umgang mit stereotypen Karrierewegen im Tanz.
„Once you see that others are doing it, its easier to imagine yourself following that path“
Dance Data Project, https://www.instagram.com/dancedataproject/
Natürlich muss man sich auch angucken, wie Frauen im Tanz, vor allem im Ballett dargestellt werden. Die Tänzerin oft in einer Opferrolle, die infantilisiert und verniedlicht wird. Während es im Zeitgenössischen Tanz durchaus Brüche mit den Stereotypen gibt, reproduziert das klassische Ballett weiterhin die Geschlechterklischees. Wie sollte man im Jahr 2020 damit umgehen, mit Stücken, die überwiegend im 19. Jahrhundert entstanden und aus dem klassischen Repertoire nicht mehr wegzudenken sind? Wie können wir klassisches Repertoire aufführen, ohne immer wieder Sexismus zu reproduzieren? Darüber würde ich mir einen Diskurs wünschen. Denn ich bin überzeugt, dass wir durchaus in der Lage sind, weiterhin Schwanensee zu zeigen und trotzdem die Problematik und Konstruktion des Stücks aus heutiger Perspektive zu reflektieren. Dazu bräuchte es neue Formate und die Einbettung von kritischer Reflexion zwischen Publikum und Ensemble in das Aufführungsgeschehen.
Erklärungsversuche und sexistische Logik
Außerdem möchte ich an dieser Stelle eine Argumentation aufgreifen, die mir oft als Erklärung begegnet, weshalb Männer es scheinbar leichter haben und wofür sie selbst nichts können:
Es gäbe einfach zu viele Frauen und Mädchen, die Tänzerin werden wollen. Die Konkurrenz zwischen Frauen sei so viel höher als zwischen Männern im Tanz und da stechen die männlichen Ausnahmetalente nun mal hervor. Nach dieser Logik müsste es aber in der Fußball-Bundesliga der Männer nur so vor Schiedsrichterinnen und Trainerinnen wimmeln. Tut es aber nicht, ganz im Gegenteil. Also muss es doch an etwas anderem liegen.
Nicht weggucken, nur weil es unangenehm und anstrengend ist
Es geht nicht darum, die Kunst der männlichen Choreographen und Tänzer abzuwerten. Was es braucht ist ein Problembewusstsein und eine Reflexion des Ist-Zustands. Wir brauchen eine Vielfalt von Perspektiven auf und hinter der Bühne. Im Bereich des Zeitgenössischen Tanzes gibt es viele Stücke, Projekte und Ensembles, die gesellschaftskritische Themen bearbeiten und divers aufgestellt sind. Leider sind es aber auch oft die Projekte, die unterfinanziert sind. In der Tanzbranche ist die Arbeit ohnehin prekär, da ist es nachvollziehbar, dass es für einige schwer ist, die eigenen Privilegien zu hinterfragen und sogar aktiv daran zu rütteln. Aber genau das müssen die darstellenden Künste und das Theater immer wieder machen: Machtverhältnisse umstoßen und Hierarchen überwinden. Lebensrealitäten auf die Bühne bringen und die Vorstellungskraft auf eine neue Ebene heben.
Die Ästhetik und das Tanzerbe allein legitimieren nicht das wiederholte zur Schau stellen von Unterdrückungsstrukturen. Und nur weil es schon immer so war, heißt es nicht, dass es so bleiben muss. Wir müssen unbequem werden. Als Künstler*innen und als Zuschauer*innen.