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Warum „durch den Schmerz tanzen“ aus der Tanzausbildung verschwinden muss

Der Schmerz gehört zum Tanz dazu

Nicht nur im Tanz, auch in anderen Leistungssportarten gehört der Schmerz irgendwie zum Training dazu. Meistens zeigt er uns, dass wir hart gearbeitet haben und verschwindet wieder. Wir fühlen zwar Schmerzen in den Füßen beim Spitzentanz, aber machen dennoch weiter. Leichtes Ziehen beim Dehnen ist zwar unangenehm, aber nur so gewöhnt sich der Körper an die Bewegung. Entscheidend ist dabei die Art des Schmerzes.

Die zwei Arten von Schmerzen im Training

Schmerz ist nicht gleich Schmerz und hat auch unterschiedliche Ursprünge und Auswirkungen. Grundsätzlich gibt es zwei Hauptarten von Trainingsschmerz:

  1. Schmerz durch intensive Beanspruchung des Körpers
  2. Schmerz auf Grund von Verletzungen

Wenn wir unseren Körper bei einer anspruchsvollen Trainingseinheit oder während einer Performance sehr intensiven Belastungen ausgesetzt haben, dann fühlen wir im Anschluss oft einen dumpfen, reibenden Schmerz. Dieser ist ganz normal und wird oft auch als positiv angesehen, weil er uns zeigt, welche hohen Leistungen wir erbracht haben. Dieser Schmerz wird oft auch Leistungsschmerz oder performance pain genannt. In der Regel legt sich die Steifheit und Anspannung der Muskeln schnell wieder.

Schmerzen nach einer Verletzung hingegen sind unangenehm. Die tänzerische Fähigkeit ist stark eingeschränkt und löst oft Ängste aus. An dieser Stelle ist wichtig zu betonen, dass sich auch der Leistungsschmerz zu einem Verletzungsschmerz entwickeln kann. Die Symptome sind zunächst sehr unspezifisch: Dumpfes und unangenehmes Gefühl an den üblichen Stellen wie Füßen, Hüfte, Knie, Sprunggelenk. Hält dieser länger an und wird nicht behandelt, kann aus einem nicht akuten Schmerz sehr schnell ein chronischer Schmerz werden.

Freund oder Feind?

Es gibt verschiedene Wege, mit Schmerzen umzugehen. Betrachte ich Schmerz als etwas sehr Negatives, dann wird er mir immer wieder Angst machen und mich negativ in meiner tänzerischen Praxis beeinflussen. Ich werde mich darauf konzentrieren, Schmerzen möglichst zu vermeiden. Dies kann dazu führen, dass die negativen Gedanken auch meine Trainingsmotivation und mein Selbstvertrauen beeinflussen. Schmerz ist schlecht und bedeutet, ich bin schwach und den Anforderungen nicht gewachsen. Letztenendes kann das Ergebnis sein, dass ich viel empfindlicher werde und mich das noch viel mehr runterzieht.

Wenn ich den Schmerz als etwas Normales ansehe, etwas, dass zum Trainingsprozess dazugehört, dann verschiebt sich auch meine Wahrnehmung. Positiv ist, dass ich so lerne, die Reize besser einzuordnen. Keine Angst vor Schmerzen zu haben kann mir dabei helfen, in einer akuten Situation die richtige Entscheidung zu treffen, wie zum Beispiel eine Trainingspause einzulegen. Ich weiß dann ganz genau, was ich tun muss, damit die Schmerzen weniger werden und welche Handlungen ihn nur verschlimmern würden.

Die Schmerzgrenze variiert stark

Nicht jede Tänzerin hat das gleiche Schmerzempfinden. Einige reagieren empfindlicher auf die Reize, die der Körper sendet, andere stecken es leicht weg. In der Regel sind Tänzerinnen sehr schmerztolerant. Das müssen sie auch sein, sonst kann weder ein Training noch eine ganze Aufführung in Spitzenschuhen durchgeführt werden. Die Schmerzgrenze ist individuell aber auch erlernbar. Ich kann meinen Körper an einen Schmerz gewöhnen, sodass er mir nicht mehr so viel ausmacht. Hier liegt gleichzeitig aber auch die Kehrseite der Medaille: Bleibt ein anhaltender Schmerz unbehandelt oder wird ignoriert, dann kann es zu schwerwiegenden Verletzungen kommen.

Die Funktion von Schmerz

Schmerzreize geben uns zahlreiche Informationen über unseren Körper. Wir können unseren Trainingszustand und unsere Technik ableiten und bekommen Rückmeldungen zu unserem Ernährungszustand und unserer Haltung. Wir bekommen unsere körperlichen Grenzen gespiegelt. Dies hilft uns, unsere Leistung anzupassen und zu verbessern. Wenn der Schmerz allerdings ignoriert wird, dann reagieren wir nicht auf die wichtigen Signale des Körpers und steigern unser Verletzungsrisiko enorm.

Der struggle mit dem Leistungsschmerz

Performance pain durch hohe körperliche Belastung versursacht Muskelverspannungen. Dies blockiert unsere Bewegungen und senkt die Motivation und das Selbstvertrauen im Training. Dieser Schmerz lenkt uns auch davon ab, dem Techniktraining zu folgen und führt zu Ermüdung.

Eine Strategie, diesem Schmerz entgegen zu wirken, ist die tiefe Atmung. Studien belegen den Zusammenhang zwischen Atmung, physiologischer Veränderung und Schmerzempfinden. Der Schmerz blockiert die Atmung, was zu einem verschlechterten Blutfluss im Körper führt. Die Sauerstoffversorgung ist beeinträchtigt und führt zu Muskelverspannungen. Das löst weiteren Schmerz aus.

Eine tiefe Atmung steigert die Sauerstoffversorgung im Blut und regt den Parasympathikus an. Dieser ist Teil unseres vegetativen Nervensystems, lenkt die Regeneration des Gewebes und ist für Entspannung und Ruhe verantwortlich. Die Muskeln entspannen sich und gleichzeitig lösen sich Ängste und negative Gefühle. Eine bewusste Konzentration auf die Atmung lenkt vom Schmerz ab und hilft, den Fokus zu verschieben.

Auch eine aktive und passive Muskelentspannung fördert die Heilung und Erholung von performance pain. Diese kann in Pausen oder vor bzw. nach dem Training absolviert werden und fördert den konstruktiven Umgang mit Leistungsschmerz.

Tanzverletzungen sind ernst zu nehmen

Tänzer*innen neigen zu Verletzungen. Dies hat einerseits damit zu tun, dass das Training ganzjährig betrieben wird (Triathlet*innen haben z.B. eine off-season) und oft keine oder nur unzureichende Erholungspausen eingelegt werden. Ebenfalls problematisch ist der hohe Leistungs- und Konkurrenzdruck im Tanz. Um nicht aus der Company zu fliegen oder ersetzt zu werden, tanzen viele Tänzerinnen trotz Verletzung weiter. Es etablieren sich Routinen wie das regelmäßige Einnehmen von Schmerzmitteln oder sogar Betäubungsmitteln. Tapen, Massagen, Dehnen, Kortisonspritzen gehören auch oft dazu. Das Problem? Sie machen alles nur noch schlimmer und bedeuten im Regelfall ein Absinken des tänzerischen Niveaus, Medikamentenabhängigkeit und chronische Verletzungen. Eine unbehandelte Verletzung hat bereits in vielen Fällen zu einem vorzeitigen Karriereende geführt.

Den Schmerz ignorieren darf auch im Profi-Tanz keine Option mehr sein

Oft ist es ja so, dass wenn wir Menschen uns verletzen, wir den Schmerz nicht sofort spüren oder sogar ein Taubheitsgefühl wahrnehmen. Das ist eigentlich ein ganz cleverer Mechanismus der Natur, der uns Zeit verschafft, uns „in Sicherheit“ zu bringen und angemessen auf die Verletzung zu reagieren, ohne sofort in einen Schockzustand zu fallen und das Bewusstsein zu verlieren. Dieser Mechanismus kann im Tanzsaal aber auch gefährlich sein, denn womöglich unterschätzen wir die Situation, tanzen weiter und richten im Körper damit einen viel größeren Schaden an.

Studien sollen gezeigt haben, dass vor allem Tänzer*innen es häufiger als der Durchschnitt vermeiden, sich bei Verletzungen ärztliche Hilfe zu holen. Sie wollen mit dem Schmerz selbst fertig werden, „durch den Schmerz hindurch tanzen“ und nehmen die medizinische Versorgung nur zögerlich oder zu spät in Anspruch. Das erhöht gleichzeitig das Risiko eines ernsthaften Krankheitsverlaufs. Oft besteht die Angst, als schwach wahrgenommen zu werden. Angst blockiert die Atmung, das Gewebe wird schlecht mit Sauerstoff versorgt, die Muskeln verspannen, es entstehen mehr Schmerzen, die Blutversorgung an der verletzten Stelle wird schlechter, dies beeinflusst die Heilung negativ… Ich glaube, man sieht, worauf ich hinaus will?!

Schmerzen leugnen ist keine Option. Verletzungen zu verharmlosen ist gefährlich.

Die Tänzpädagogin Judith-Elisa Kaufmann schreibt in ihrem Buch Tanzpädagogik und Tanzmedizin – die Symbiose der Zukunft, dass vielen Tanzinstitutionen und Pädagog*innen der Mut fehle, sich gegen die traditionelle Tanzerziehung zu stellen. Ich frage mich, warum? Ist es immer noch ein thrill, den Mythos der leidenden, sich der Kunst aufopfernden Tänzerin aufrecht zu erhalten? Den Tanz als etwas ganz exklusives zu stilisieren, zu dem nur wenige Zugang haben und erfolgreich sein können? Sind wir nicht eigentlich schon weiter, so im Jahr 2020?

Glücklicherweise verbreitet sich die Tanzmedizin immer mehr in allen Tanzsparten und ist die Grundlage in (hoffentlich) jeder Tanzpädagogik-Ausbildung geworden. Ich denke aber, wir sollten die tanzmedizinischen und tanzwissenschaftlichen Erkenntnisse mehr pushen, weil noch so viel Potential nach oben ist.

Und wir müssen endlich aufhören, Tänzer*innen zu sagen, dass sie trotz (starken) Schmerzen weitertanzen müssen.

Stop dancing through your pain.

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